Er nahm die Niederlage mit einem Lächeln hin, es machte fast schon den Eindruck, als wäre es ihm egal gewesen. Oder hat auch er bereits kommen sehen, was sich schon seit Monaten abzeichnete?
Der Absturz eines Unvollendeten
Stefanos Tsitsipas, einer der besten Tennisspieler seiner Generation, steckt in der Krise. Die Zweitrundenniederlage bei den French Open gegen den italienischen „Nobody“ Matteo Gigante am Donnerstag verdeutlicht es mehr denn je.
Der junge Mann, den manche Bewunderer gern den „griechischen Gott“ nennen, wirkt im Moment eher wie die Hauptfigur der griechischen Tragödie - ein ratloser Held in auswegloser Lage.
Was ist los mit dem zweimaligen Major-Finalisten? Und kann sein renommierter neuer Coach ihn aus dem Loch holen?
French Open: Tsitsipas blamiert sich
4:6, 7:6, 2:6, 4:6 stand nach etwas mehr als drei Stunden auf der Anzeigetafel. Der Finalist von 2021 schied beim zweiten Grand Slam des Jahres völlig überraschend gegen die Nummer 167 der Weltrangliste aus. Es war kein Ausrutscher, sondern der vorläufiger Tiefpunkt einer Kurve, die schon seit mehreren Monaten nach unten zeigt.
Seit seinem Triumph in Dubai Anfang März kam Tsitsipas bei keinem Turnier mehr über das Viertelfinale hinaus. Die Saisonbilanz ist mit 18:11 Siegen mehr als nur durchwachsen.
In Paris hatte sich Tsitsipas den Befreiungsschlag vorgenommen. Das Gegenteil passierte.
Vergeblich an Stellschrauben gedreht
„Ich hatte mir für diese zwei Wochen deutlich mehr vorgenommen“, gab Tsitsipas auf der anschließenden Pressekonferenz unumwunden zu: „Hier so früh auszuscheiden, tut weh. Ich werde darüber nachdenken und sehen, was genau schiefgelaufen ist.“ Seinem Bezwinger Gigante zollte Tsitsipas dabei großen Respekt, musste aber beim Blick auf sich selbst eingestehen, dass er „phasenweise unreif“ spielte.
Ganze 49 unerzwungene Fehler leistete sich Tsitsipas, schlichtweg zu viele, gegenüber „nur“ 31 Gewinnschlägen. Was er auch probierte, es funktionierte wenig.
Der 26-Jährige hatte dabei schon vor Turnierbeginn an Stellschrauben gedreht, griff in Roland Garros unter anderem auf seinen alten Schläger zurück. „Ich wollte zurück zu dem, was sich für mich vertraut und richtig anfühlt“, sagte Tsitsipas im Vorfeld.
Doch das vertraute Gefühl, das am Ende blieb, war das der Niederlage. Einer Niederlage mit Folgen.
So können Sie die French Open heute live sehen:
- TV: Eurosport
- Stream: Eurosport über DAZN oder Amazon Prime
- Ticker: SPORT1.de und SPORT1 App
Beeindruckende Serie endet
Tsitsipas wird kommende Woche erstmals seit dem 6. August 2018 in der ATP-Weltrangliste aus den Top 20 rutschen. Im Live-Ranking wird er aktuell nur noch auf Platz 26 geführt, es könnten sogar noch weitere Spieler an ihm vorbeiziehen.
Damit geht nach knapp sieben Jahren eine bemerkenswerte Serie zu Ende: Unter den aktiven Spielern mit den längsten Top-20-Serien liegt Tsitsipas nur hinter dem langjährigen Branchenprimus Novak Djokovic.
Genau dieser Djokovic war es, der Tsitsipas zweimal im Weg stand, als er kurz davor war, seine Karriere mit einem Grand-Slam-Erfolg zu krönen, 2021 in Paris und 2023 in Melbourne. In besonders bitterer Erinnerung ist dabei das French-Open-Finale vor vier Jahren: Tsitsipas lag 2:0 nach Sätzen vorne, der erste Grand-Slam-Titel schien zum Greifen nah, ehe Djokovic groß aufspielte und sein Traum zerplatzte.
Bis heute teilt Tsitsipas sich mit Alexander Zverev den Makel des unvollendeten Sandwich-Kinds der Generation zwischen Djokovic, Nadal, Federer und den neuen, jüngeren Ausnahmekönnern Carlos Alcaraz und Jannik Sinner. Aktuell wirkt der Traum von der Vollendung ferner denn je. Und Tsitsipas verhehlt nicht, dass ihm seine Situation zu schaffen macht.
Ein Künstler in der Schaffenskrise
Auf der Pressekonferenz nach seinem Aus sprach er offen über die Verletzungsprobleme in den letzten Jahren, die ihm „psychologisch sehr zugesetzt“ hätten - wenngleich er sofort einschränkte: „Ich bin ein optimistischer Mensch. Ich möchte keine Ausreden oder Ähnliches vorbringen, also konzentriere ich mich ganz darauf, wie wir zu Lösungen kommen.“
Aber, der Tennissport sei ein ständiges Rätsel: „Die Dinge haben sich in den letzten Jahren definitiv verändert, und ich weiß, dass ich mich jetzt in einer ganz anderen Position befinde“, musste „Stef“ eingestehen.
Sein sportlicher Absturz habe auch damit zu tun, dass er seine Erfahrung nicht klug genug einsetze. „Ich habe das Gefühl, dass mich meine Erfahrung manchmal erdrückt, anstatt dass ich sie auf eine professionellere und tiefgründigere Weise nutze“, erklärte sich die ehemalige Nummer drei der Weltrangliste.
Sein Sponsor Red Bull beschrieb Tsitsipas einmal als kreativ, wissbegierig und Künstler auf dem Platz. Die sensible Künstlerseele ist nun aber offensichtlich in eine Schaffenskrise gerutscht. Kann ein Mann, der sich mit den mentalen Untiefen des Sports besser auskennt als die meisten anderen, nun die Wende bringen?
Ivanisevic als Rettungsanker?
Am Tag nach seinem Aus in Paris präsentierte Tsitsipas Goran Ivanisevic als neuen Coach, viele Jahre lang Fixstern im Kosmos von Überfigur Djokovic - und selbst zu aktiven Zeiten legendär dafür, wie er jahrelang dem Traum vom Grand-Slam-Titel vergeblich hinterherrann, um sich dann 2001 in Wimbledon spät und emotional zu krönen.
Dass Ivanisevic mit seiner Vita der Mann sein könnte, der Tsitsipas den Weg weisen könnte: Es ist eine naheliegende Hoffnung. Ob die beiden menschlich zusammenpassen, soll eine auf unbestimmte Zeit angelegte Probezeit klären.
Wer klassisch gebildet ist, weiß: Im antiken Theater hat die griechische Tragödie kein Happy End, das Schicksal des Helden ist vorherbestimmt und unabwendbar. Auf der Theaterbühne des Sports ist der Ausgang offen. Die Zeit wird zeigen, ob es Tsitsipas noch gelingt, sein Schicksal zu wenden.